Update 03.04.2023: E-Bike-Verleih – coole Aktion oder blinder Aktionismus?

Update: Gemeinde Burbach: Rat erteilt Velocity eine Absage – Burbach (siegener-zeitung.de)

Update: Studie: E-Bikes und E-Scooter zum Leihen sind nicht umweltfreundlich – Mobility.Talk (mobility-talk.com)

Vorwort

Vorab: mein einziger Kritikpunkt an Pedelecs (wie E-Bikes eigentlich korrekt heissen), ist der Preis. Da packe ich mir manchmal wirklich an den Kopf. Ansonsten kann man nicht viel Negatives über die Fahrräder an sich (über die Fahrer manchmal schon) sagen: die Idee ist doch ganz gut. Gerade hier im “bergigen” Siegerland mit teilweise ganz ordentlichen Höhenunterschieden ist so ein E-Bike ein Segen.

Was ich allerdings für ziemlich sinnbefreit halte: wenn Unternehmen im Siegerland im Namen des Umweltschutzes (Stichwort: CO2-Einsparung) grossangelegte E-Bike-Verleihstationen in die Landschaft setzen.

Die Kritik daran möchte ich begründen, und alle Daten basieren nach bestem Wissen und Gewissen auf dem, was öffentlich einsehbar ist, und zwar vom 01.09.2022. Ich lasse mich überraschen, ob ich von Gemeindemitarbeitern, den Mitarbeitern diverser Unternehmen oder den elitären “Oberen Zehn” der Gemeinde wieder persönliche Beleidigungen um die Ohren gehauen bekomme, weil man es ja wagt, etwas zu kritisieren, was ja soooo sinnvoll für diesen Landstrich ist 😉


Vergleich Aachen / Siegerland

Hier im Siegerland möchte Velocity Siegerland (engl. “Geschwindigkeit” oder ein nettes Sprachspiel von “Velo” und “City”) seine kostenpflichtigen E-Bikes vermieten. Es ist eine Tochter (oder Franchisenehmer?) von Velocity Aachen, die dort bereits seit geraumer Zeit mit ihren E-Bikes und Leihstationen aktiv sind.

Vergleichen wir, was bei beiden Unternehmen geplant ist:

AachenSiegerland
Einwohner249.000241.000
Fläche (km²)160649
Anzahl Stationen / Anzahl Bikes100 / 100050 / 300
Preis Standard1,50 € / 30 min (1,50 / angef. 30 min)1,99 € / 30 min (0,09 € / weitere Minute)
Preis Monat28 € + Basistarif, erste 30 min pro Buchung frein/a – ich gehe von den gleichen Konditionen aus mit dem Basispreis für Siegerland
Daten vom 01.09.2022 sofern von den entsprechenden Webseiten einsehbar

Ziel der Unternehmen


Kritik

Die nackten Zahlen

In Aachen leben 1.556 Menschen auf einem Quadratkilometer, die sich (am Ende des Ausbaus) 100 Stationen mit insgesamt 1.000 Fahrrädern teilen. Das bedeutet, jede Station hat ca. 10 Fahrräder, auf 2490 Bürger kommt eine Station, für 249 Bürger steht ein Fahrrad zur Verfügung.

Im Siegerland leben 371 Menschen auf einem Quadratkilometer, die sich (am Ende des Ausbaus) 50 Stationen mit insgesamt 300 Fahrrädern teilen. Das bedeutet, jede Station hat ca. 6 Fahrräder, auf 4.820 Bürger kommt eine Station, für 803 Bürger steht ein Fahrrad zur Verfügung.

Damit stehen in Aachen den Bürgern ca. 3,2 mal mehr Fahrräder zur Verfügung, als im Siegerland. Interessanter wird es, wenn man die Ausehnung des Gebietes hinzunimmt: während in Aachen auf 16 Hektar ein Rad kommt, sind das im Siegerland ein Rad auf 206 Hektar.


Verteilung der Ladestationen

Hier wird es anfangs sicherlich etwas unfair sein, einen Vergleich anzustellen. Aber – auch der Geografie geschuldet – es wird sich zeigen, dass eine sinnvolle Verteilung der Lade- und somit Verleihstationen im Siegerland kaum möglich ist.

Ich bin kein Kenner des Stadtgebietes von Aachen, aber nimmt man sich Kartenmaterial hinzu, so sieht man: in den Aussengebieten der Stadt stehen gerade in dichter bewohnten Gebieten viele Ladestationen. Von überall ausserhalb kann man mit dem Rad in die Stadt fahren, wo dann in den Einkaufs- und Arbeitsgebieten wiederum eine Vielzahl an Leihstationen stehen.

Mit anderen Worten: man pflastert das gesamte Stadtgebiet von Aachen zu, um von möglichst jedem beliebigen Ort am Stadtrand in die City zu kommen, dort zu arbeiten oder einzukaufen, und dort dann (merke: jede Ladestation hat 10 Räder) auch möglichst wieder sehr gut in die Aussenbezirke zu gelangen. So zumindest die Theorie.

Ausschnitt aus der Karte der Ladestationen im Bereich Aachen

Vergleichen wir damit, wie sich das im Siegerland enwickelt, ergibt sich ein vollkommen anderes Bild.

14 Stationen im Siegerland verteilt – 50 sollen es mal werden.

Zugegeben: hier sollen es irgendwann mal 3,5 mal mehr Stationen werden. Wo diese stehen sollen, ist noch nicht bekannt. Man beachte trotzdem: würde man alle diese 50 Stationen direkt in den Siegener Stadtbereich stellen, hätte man immer noch (auch in Relation) viel weniger Stationen in Siegen selbst, als beispielsweise in Aachen. Grössere Ortschaften wie Wilnsdorf (mit Ortsteilen), Freudenberg, Netphen, Kaan-Marienborn, Kreuztal, Hilchenbach……. überall dort steht bis heute noch nicht eine einzige Station. Und würde man diesen Orten auch nur zwei Stationen zuteilen, dann hätte man das Kontingent der 50 Stationen schon fast ausgeschöpft, ohne woanders auch nur eine weitere Station unterzubringen. Das kann man hier in der weitläufigen Gegend kaum Netzwerk nennen.

Ergo: viel zu wenig Stationen viel zu weit verteilt um irgendeinen Sinn als KFZ-Ersatz zu machen.


Mit dem Auto zur Ladestation?

Wir behalten im Hinterkopf: im ganzen Siegerland sollen 50 Stationen entstehen. 14 gibt es derzeit bereits. Davon steht in meiner Gemeinde (derzeit) eine: hier, wo der rote Punkt leuchtet.

Wie viele Ladestationen wird die Gemeinde wohl noch bekommen, wenn von den 36 noch fehlenden Stationen auch noch welche auf das restliche Siegerland, mit grösseren Ortschaften wie eben erwähnt (Wilnsdorf, Freudenberg, Kreuztal, Netphen) verteilt werden müssen, und Siegen selbst ja noch ansatzweise nicht die Dichte an Stationen besitzt, die es gerade auch aufgrund der geografischen Lage bräuchte?

Die von mir eingezeichneten blauen Punkte sind weitere grössere Wohngebiete, häufig höher gelegen.

Sagen wir, mit viel Glück bekommt Neunkirchen noch zwei Stationen. Wo stellt man die im Gemeindegebiet hin? Da, wo die Geschäfte sind? Da, wo die Menschen wohnen? Im Idealfall doch (siehe Aachen) beides. Das wird nicht möglich sein. Ich kann jetzt mutmassen, wo ich auf der Karte noch zwei (von mir aus auch fünf) weitere rote Punkte einzeichnen würde: niemals wird das ausreichen, auch nur ansatzweise genug Stationen in der Nähe der blauen Punkte zu haben und / oder in der Nähe von Ärzten, Einkaufszentren etc.

Wie also kommt jemand, der etwas unterhalb des hier eingezeichneten Ausflugslokal “Zum Steimel” wohnt, zu der derzeitigen Ladestation?

  • zu Fuss bis zur nächsten Bushaltestelle und von dort mit dem Bus zur Ladestation?

Das würde dann so aussehen:

Ernsthaft: niemand geht bei Sturm, Regen, Hagel, 30 Grad im Schatten oder 20 Grad minus 1,3 Kilometer den Berg runter, um irgendwie an ein Leihfahrrad zu kommen! Dann hat er entweder schon lange ein Eigenes, wenn er Wert darauf legt, oder er fährt mit dem Auto.

Je nachdem wo man wohnt, ist der ÖPNV (ja, es soll Anwohner geben, die mal einen Bus gesehen haben, auf dem nicht “Betriebsfahrt” stand) auch sehr gut zu erreichen: hier mein Weg zur nächsten Bushaltestelle: im Dunklen mit Stirnlampe und bitte mit wasserfesten Schuhen!

Selbst, wenn wir hier nicht über die Erreichbarkeit von Ladestationen für E-Bikes sprächen: niemand geht diesen Weg durch den Wald, bei Wind und Wetter und im Dunklen, um mit dem Gurkenbus IRGENDWOHIN zu fahren! Geschweige denn, schleppt auf dem Rückweg noch irgendwelche Einkäufe etc. mit sich.

Selbst wenn man zu jedem blauen Punkt auf meiner Karte noch einen roten setzen würden: es wird zu wenig sein, es wird zu kompliziert sein, es wird zu unbequem sein. Es wird nicht funktionieren – schon gar nicht im gesamten Siegerland.

Wie also kommt der Einwohner von Neunkirchen zu seinem E-Bike, dass derzeit nur im Zentrum der Gemeinde zur Verfügung steht, wo niemand wohnt? Mal schauen, was sich so ergibt.


Die Kosten

Die Preise in Aachen
Die Preise im Siegerland

Es fällt auf, dass in Aachen verschiedene Tarife angeboten werden, im Siegerland nicht. Das mag sich bestimmt noch ändern, wenn das System erstmal richtig in Schwung gekommen ist. Falls – nicht wenn. Da auch die weiteren Optionen in Aachen quasi auf dem Standardtarif basieren, soll uns das mal nicht weiter jucken und wir kalkulieren einfach entsprechend.

Ich stelle mir hier zwei Szenarien vor: der schnelle Arztbesuch / Einkauf, das Pendeln zum Arbeitsplatz. Gehen wir von den offiziellen Zahlen aus, rechne ich mit 17 km pro Strecke für das Pendeln und einer Zeit von ca. einer Stunde, die ich dafür brauche. Den Arztbesuch / Einkauf rechne ich mit ca. einer Stunde (30 min vor Ort, 30 min Gesamtfahrzeit). Als Arbeitszeit setze ich 8 Stunden an. Diese Berechnungen setzen voraus, dass sich direkt am Wohnort auch eine Ladestation befindet (was kaum möglich ist, aber sonst ja zu längeren Wegen führen würde, bspw. um den Einkauf erstmal unterzubringen und dann das Rad zurückzugeben).

SzenarioAachenSiegerland
Einkauf, Ladestation vor Ort
(Rad einloggen, Hinfahrt 15 min, Rad ausloggen, Einkauf, Rad einloggen, Rückfahrt 15 min, Rad ausloggen)

3,00 Euro

~ 4,00 Euro
Einkauf, Ladestation NICHT vor Ort
(Rad einloggen, Hinfahrt 15 min, Einkauf, Rückfahrt 15 min, Rad ausloggen)

3,00 Euro

~ 4,70 Euro
Pendeln zur Arbeit, Ladestation vor Ort
(Rad einloggen, Hinfahrt 1 Stunde, Rad ausloggen, Arbeitszeit, Rad einloggen, Rückfahrt 1 Stunde, Rad ausloggen)

6,00 Euro
~ 9,40 Euro
Pendeln zur Arbeit, Ladestation NICHT vor Ort
(Rad einloggen, Hinfahrt 1 Stunde, Arbeitszeit, Rückfahrt 1 Stunde, Rad ausloggen)
30 Euro~ 53,30 Euro
Kosten Pendeln “Monatsticket” Ladestation vor Ort (20 Arbeitstage)88 Euro108 Euro
Kosten Pendeln “Monatsticket” Ladestation NICHT vor Ort (20 Arbeitstage)nicht berechnet wegen ->indiskutabel, da weit über 800 Euro

Ich bekomme im Siegerland also weniger geboten, bezahle aber zwischen 25 und 30 % mehr, als bspw. in Aachen.

Bleiben wir im Siegerland: wenn ich das Rad zum Pendeln, zum Einkaufen oder auch noch für diverse andere Dinge nutze, bin ich ganz schnell bei Kosten über 120 Euro im Monat. Das sind > 1.400 Euro im Jahr. Damit kommen wir dann zum Sinn und Zweck des Ganzen.


Sinn und Zweck – der vielleicht wichtigste Punkt

Das Wichtigste im Leben ist die Notwendigkeit.

Diskutieren wir gar nicht über Weltuntergangszenarien. Tun wir so, als ob dieser Planet noch zu retten wäre. Dann gehört dazu, dass sich der Ausstoss von CO2 massiv verringert. Können Fahrräder dazu beitragen?

Vielleicht. Und zwar immer dann, wenn ich CO2-Emissionen vermeide, also vom ÖPNV oder dem Auto / Mofa auf das Fahrrad umsteige. Nehme ich das Rad, weil ich zu faul bin, zu Fuss zu laufen, obwohl ich das könnte, schade ich dem Ganzen eher.

Also: vom Auto auf das Rad umzusteigen ist eine sinnvolle Sache für die Umwelt. Aber geht das immer? Welche Kompromisse sind möglich, welche sind zumutbar? Und wo gibt es überhaupt keine Diskussion darüber, dass das Auto nicht zu ersetzen ist?

Ich will versuchen, gar nicht so viele Beispiele zu bringen. Ich kann immer dann vom Auto auf das Rad umsteigen, wenn Entfernung, Witterungsbedingungen, der eigene Gesundheitszustand und das evtl. zu transportierende Transportgut es zulassen und ich die finanziellen Mittel dazu habe. So einfach ist das.


Radfahren nur für Fans, Anspruchslose oder Hartgesottene

Einfach? Wirklich? Wenn ich Student bin, in einer kleinen Butze lebe und nur von Energy-Drinks und Dosenravioli lebe (jaja, ich übertreibe), dann mag das kein Problem sein. Dann wohne ich hoffentlich in der Nähe der Uni, und niemanden wird es interessieren, wenn ich dort pitschenass aufschlage – ticken ja alle so, wie ich.

Ich kann natürlich auch zur Arbeit fahren, meinen schicken Anzug unter einem Regenkombi verstecken und dann der Witterung und der schlammigen Strecke trotzen und mich auf der Arbeit umziehen. Geht alles.

Wenn ich aber ein Kind zur Schule oder Kita bringe, will ich das wirklich vorne in so eine Klapperkiste setzen und bei Wind und Wetter durch die Gegend fahren? Stichwort: Erkältung, Unfall, Sicherheit?

Will ich wirklich bei -20 Grad meinen Kasten Wasser durch den Schneesturm fahren? Bei 30 Grad im Schatten meine Tiefkühlkost nach Hause bringen? Und stell Dir vor, Du fährst bei 30 Grad im Anzug los und mitten im Wald fängt es an zu schütten. Die Reinigung wird sich über neue Aufträge freuen. Bei 20 Zentimeter Schnee (ja, das und viel mehr hatte es hier früher häufig) auf zwei Rädern durch die Gegend fahren? Wirklich?

Ja, es gibt Leute (und ich kenne welche), die sind schmerzfrei: Wind, Wetter, Kleidung, Job – nichts spielt eine Rolle, sie sind einfach “fahrradverrückt”. Aber ich kenne keinen, der KEIN Auto hätte. Und ich kenne keinen, der sich für 1.400 Euro im Jahr ein gammeliges Bike ausleihen würde, auf dem jeder mal rumgejuckelt hat, welches nicht seinen Ansprüchen entspricht. Diejenigen, die voll aufs Rad abfahren, die haben ein Eigenes – ganz besonders hier im Siegerland.


Man braucht (fast immer) noch ein Fahrzeug

Dann gibt es die Dinge, die sich einfach nicht mit dem Rad erledigen lassen: Hund oder Katze zum Tierarzt bringen. Kind oder Ehepartner nach einer Narkose vom Arzt abholen. Oder wie schon beschrieben: bei bestimmten Witterungen würde ich mich alleine aus Gründen für meine Gesundheit nicht auf ein Fahrrad setzen. Der ÖPNV ist hier auf dem Land eh grösstenteils indiskutabel für den Alltag, also brauche ich ein Auto.

Ein Fahrrad für den Freizeitspass, um Bewegung zu erhalten, um gerade hier im Bergigen etwas leichter die hügelige Schönheit der Natur zu entdecken – klar, warum nicht. Aber das ersetzt ja nicht das Auto: ich kann und würde es eh nur zu Fuss oder mit dem Rad machen. Ich habe nicht das Geringste gegen E-Bikes oder Fahrräder.

Wenn ich also sowieso ein Auto brauche, und ich denke, die Mehrheit der hiesigen Bevölkerung wird das so sehen, warum also sollte ich mir dann noch ein teures Bike dazu kaufen, um die (wenigen!) Strecken, die theoretisch auch ohne Auto zu bewältigen wären, mit einem Rad zurückzulegen, welches mich so viel kostet wie ein neuer Dacia Sandero????

Dazu kommt doch, dass man mir bitte nicht erklären möge, das Rad sei das Fortbewegungsmittel der Zukunft, und ich solle deswegen mein Fahrzeug stehenlassen / verkaufen. Da wollen alle mit Glasfaser im Internet surfe, aber demnächst dann mit der Rikscha zum Bahnhof fahren……..

Ich bin davon überzeugt: wer hier im Siegerland ein Fahrrad fahren möchte (egal aus welchen Gründen), der hat a) das Geld, sich ein solches zu kaufen und b) wird so begeistert davon sein, dass er nie auf die Idee käme, sich häufiger ein öffentliches Rad zu mieten.


Leih-Fahrrad ist ja nicht gleich Fahrrad

Wozu dann also Leihfahrräder? Selbst als vollkommen abgerockter Öko-Freak: welche Distanz von meiner Wohnung zum E-Bike wäre ich denn gewillt, zurückzulegen? Nehmen wir das Beispiel mit dem Steimel: glaubt wirklich jemand, dass man hunderte Meter den Berg runter rennt, weil da in irgendeiner Seitenstrasse eine Ladestation ist, man dann ein Rad mietet, damit dann zum Einkaufen fährt, von dort mit dem schweren Gepäck nach Hause, es dort einräumt (Stichwort: Kühlware), das Rad wieder zur Ladestation bringt und dann wieder den Berg hoch läuft?

Das ist ja nicht das einzige Problem. Dazu kommt ja die Frage: ist vor Ort denn auch eine Ladestation? Wenn ich schon 30 min bis zum Supermarkt gefahren bin, dann freut sich der Verleiher zumindest nach dem Siegerländer Modell, wenn ich mir beim Einkaufen viel Zeit nehme 🙂

Will ich wirklich hoffen, dass nach meinem anstrengenden Arbeitstag auch ein Fahrrad in der Leihstation steht? Was, wenn nicht? Schaut man sich die netten Bewertungen aus Aachen an, dann kann man sich vorstellen, was einen auch hier im Siegerland erwarten kann 🙂

Dazu gab es Beiträge, dass die Software nicht funktioniert, Räder nicht abgeschlossen werden konnten (und somit die Zeit weiter lief), Räder nicht freigegeben wurden, man zwar rund um die Uhr ein Rad leihen kann, aber der Service ist nur von 9.00 Uhr bis 14.00 Uhr zu erreichen. Reifen waren defekt, Lichter abgeschlagen, Bremszüge durchtrennt, Sattel versifft, ein Ei im Rad………….

Es macht also einen Unterschied, ob ich mein eigenes Rad habe, welches meinen Anforderungen entspricht, ich dieses jederzeit und überall nutzen kann, ich es auch stundenlang mit ins Büro oder in den Zug nehmen kann. Ein Leih-Fahrrad ist ein absolutes Nischenprodukt mit viel mehr Nachteilen als Vorteilen. Und wer das nur monetär sehen möchte: nach zwei Jahren regelmässigem Leihen kann ich mir auch ein Fahrrad kaufen. Oder ich nehme das Geld des Monatsabos und nutze es als monatliche Rate für die Finanzierung.

Fazit: ich habe ein Auto weil ich ein Auto brauche. Aus welchem Grund sollte ich dann zu Fuss, mit dem ÖPNV oder mit meinem Auto zur Ladestation fahren, mir dort ein Rad leihen, irgendwohin fahren, und dann das Ganze wieder zurück? Wenn mir Umweltschutz wirklich so sehr am Herzen liegt (und auch das ist wieder ein Thema, über das man stundenlang diskutieren könnte), dann kaufe ich mir direkt ein E-Auto – aber ich leihe mir kein Fahrrad.


Die Geografie

Zugegeben, es wäre etwas unfair, die reinen Zahlen mit einander zu vergleichen. Hier würde das Modell von Velocity Siegerland rein zahlenmässig direkt verlieren. Man muss sich natürlich auch die geografische Beschaffenheit anschauen. Viele Bereiche, die zum Siegerland gehören, sind überhaupt nicht bewohnt, sondern bewaldet.

Aachen als Stadt (mit Randgebieten) ist (fast) flach wie eine Scheibe, hier bündelt sich die gesamte Anzahl der Bewohner auf einem Fleck.

Im Vergleich: das Siegerland wird durchschnitten von tiefen Tälern, in denen sich meist die Siedlungsgebiete befinden, lediglich Siegen selbst als Stadt ist ein etwas grösseres Ballungsgebiet, welches sich aber auch durch Höhenlagen und Täler auszeichnet, in denen sich die Ortsteile befinden.


Berge != kurzer Weg

Die besondere Landschaft macht häufig kurze Wege unmöglich. Während man in Aachen quasi einfach nur die Richtung angibt, und dann auch in diese Richtung fahren kann, nutzt einem das hier im Siegerland gar nichts. Um ein Beispiel zu nennen: um von meinem Haus in das hinter dem Berg gelegene Mudersbach zu kommen, wären das Luftlinie 5 km. Im Wald würde man sich komplett verfahren (und das wäre auch kaum der schnellere Weg), also bleibt nur, an einer belebten Landstrasse mit Höhenunterschieden von fast 200 m und engen Kurven zusammen mit 40-Tonnern und anderen KFZ die enge Strasse zu teilen. Fahrtstrecke: mit 13 Kilometern fast drei mal so lang.

Kurze Wege sind nicht möglich, es geht auf und ab, es müssen weite Fahrstrecken zurückgelegt werden. In Aachen ist alles sehr zentral und gebündelt.


Komplett fehlende Infrastruktur für Radfahrer

Nächstes Beispiel: ich möchte von meinem Wohnort in die nächstmögliche Gemeinde des Siegerlandes fahren: Wilnsdorf.

Für Rad-Pendler gibt es (eigentlich) nur diese eine Möglichkeit: über die Landstrasse, die sich wieder mit LKW, PKW und mind. Tempo 80 geteilt werden muss. Ortskundige, die es nicht eilig haben, können auch am Waldrand entlang fahren, aber wirklich geeignet für einen fliessenden Fahrradverkehr ist das nicht: Wurzeln, Pfützen, Spaziergänger mit Kind und Hund, und viel zu schmal für zügigen, entgegenkommenden Verkehr. Von Asphaltierung gar nicht erst zu reden. Das geht für die Sonntagsfahrt, nicht für’s Pendeln mehrerer Radfahrer.

Die Stadt Siegen hat für den Einzugsbereich der Stadt einen Radwegeplan herausgegeben. Naja….. was man dort grösstenteils gemacht hat: man hat der Fahrbahn mittels Markierung notdürftig ein paar Zentimeter abgenommen und daraus einen Fahrradstreifen gemacht. Das aber auch nur wirklich super-selten. Wer sich die Karte anschaut: Radwege, die sich insbesondere für Pendler eignen (denn das Ziel soll ja laut eigenen Angaben von Velocity Siegerland) der Umstieg vom Auto auf das Rad sein, die gibt es im Siegerland nicht.


Wie komme ich an einigen Orten überhaupt da hin, wo ich hin will?

Um einmal deutlich zu machen, was man sich unter der Geografie in Siegen vorstellen muss: wer bspw. mit dem Bus oder Zug in Siegen am Bahnhof ankommt (wo sich bereits sehr viele Geschäfte befinden), und von dort in die sog. “Oberstadt” möchte (ein weiterer Bereich mit Geschäften und Gastronomie), der wird zu Fuss den folgenden Weg nehmen müssen:

Weit, steil, alles Fussgängerzone 🙂 Selbst wenn jemand am Bahnhof irgendwann mal eine Ladestation findet, muss er sich all die engen Strassen mit den PKW teilen, denn es gibt natürlich weder einen Radweg noch darf man die Fussgängerzone benutzen. Wer da sein 30 kg schweres Bike schieben will, der kann es auch direkt lassen 😉

Es gibt so gut wie keine ausgewiesenen Fahrradwege, die sich eignen, und das bei den weiten Strecken, die zwischen den Orten zurückgelegt werden müssen.


Fazit

Radfahren ist ökologisch sinnvoll. Ob es ökonomisch sinnvoll ist, wenn man zu dem (fast immer) benötigten eigenen Auto noch ein Fahrrad kauft, das muss der eigene Geldbeutel und die eigenen Wertevorstellungen entscheiden.

Für jemanden wie mich, der weite Strecken zurücklegen muss, der bei Wind und Wetter unterwegs sein muss (und will), der diverse Utensilien, Hund(e) oder Personen transportieren muss und will, ist ein Rad keine Option. Höchstens noch als Freitzeitgerät, um Spass zu haben und was für die Fitness zu tun. Aber nur, weil ich mit einem Auto von A nach B fahre, heisst das nicht, dass ich dort weder Spass habe noch mich körperlich betätige. Und wenn ich unbedingt will, habe ich mir seinerzeit für viel Geld ein Ergometer gekauft. Das verstaubt genauso, wie das Rad es würde.

Ein Leih-Fahrrad hingegen ist für mich eine sinnvolle Ergänzung zum ÖPNV, die ich mir in Ballungsgebieten wie Köln, Berlin oder wie im besagten Fall in Aachen vorstellen kann. Wenn die umgebende Infrastruktur stimmt, die Geografie stimmt und auch die die Anzahl der Leihstationen / Räder stimmt, so dass ich Lust habe, kleine Kompromisse einzugehen. Ob das günstiger ist, sich per Monatsticket ein Rad zu leihen im Vergleich zu Monatstickets mit U- oder S-Bahn (oder spätestens, wenn der Nachfolger des 9-Euro-Tickets kommt), kann ich nicht beurteilen. Hier müsste man dann die Vorteile von ÖPNV und Leih-Fahrrad abwägen.

Ich kann mit 50 Stationen und 300 Rädern als Endziel (wann und ob das jemals erreicht wird, steht ja in den Sternen) hier für das gesamte Siegerland den Sinn nicht erkennen. Ausser, für ein junges Team aus Werksstudenten und StartUp-Gründern, ein wenig Geld zu verdienen, unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit und des Klimawandels. Natürlich – ohne das geht’s heutzutage ja nicht mehr.

Die Wahrheit ist – das hier ist Bullshit:

Es gibt die Infrastruktur nicht, die Zahlen machen die Unternehmung aus diesen Gesichtspunkten unsinnig. Und Luft- und Lebensqualität wäre hier viel besser, wenn nicht so viel Wald abgeholzt würde und ständig irgendwelche Täler / Wälder mit Industrieanlagen zugepflastert würden.

Aber das ist eben die Scheinheiligkeit, mit der man heute leben muss: anstatt ehrlich zu sagen “ich muss Geld verdienen, also bitte kauft mein Zeug” heisst es dann “wir sind glücklich, wenn die Bürger mit einem Lächeln unseren Laden verlassen, weil wir sie mit überteuerten Produkten aus traditioneller, lokaler Handwerkstkunst beglücken konnten”.

Oder eben (langfristig) vollkommen überteuerte E-Bikes (Pedelecs) mieten. Ob sich das ökonomisch für “Velocity Siegerland” lohnt, das müssen dann irgendwann die Geschäftsführer bestimmen.

Ein weiteres Geschmäckle, das bleibt: wie kommen Kommunen auf die Idee, öffentlichen Grund und Boden für Privatunternehmen zur Verfügung zu stellen, die damit Gewinn erwirtschaften und eh schon öffentliche Infrastruktur nutzen, ohne die sie überhaupt keinen Gewinn machen könnten. Und das Ganze (so behaupte ich jetzt einfach mal frech) mutmasslich komplett am § 103 GWB vorbei. Nämlich mutmasslich ohne öffentliche Ausschreibung. Oder will mir jemand sagen, man habe auch andere Interessenten zu dem Thema gehört?

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